Das Sokratische Gespräch bei Gustav Heckmann
Seine Erfahrungen aus den von ihm erlebten und geleiteten Sokratischen Gesprächen legt Heckmann erstmals 1981 in seinem Buch „Das Sokratische Gespräch“ dar. Es bietet keine geschlossene Theorie des Sokratischen Gesprächs. Im Gegenteil: Heckmann betont immer wieder in seinem Buch, dass es neben seiner individuellen Ausprägung des Sokratischen Gesprächs, wie er sie beschreibt, eine Fülle anderer geben mag (vgl. Krohn 1993, S. 7 f.). Heckmann beginnt das erste Kapitel seines Buches mit einer allgemeinsten Definition der sokratischen Methode:
„Sokratische
Methode im weitesten Sinne wird praktiziert, wo und wann immer
Menschen durch gemeinsames Erwägen von Gründen der Wahrheit
in einer Frage näherzukommen suchen. Dieses Bestreben tritt
vielfach hier und da in Gesprächen auf. Sokratisch würde
ich ein Gespräch nennen, in dem es nicht nur sporadisch
auftritt, sondern durchgängig das Gespräch bestimmt; ein
Gespräch, in dem durchgängig ein gemeinsames Erwägen
von Gründen stattfindet.
Über die Bedingungen der Arbeit in einem solchen Lehrgespräch, informiert Heckmann die Studenten durch einen Anschlag am schwarzen Brett. In der ersten Sitzung wird, nach den notwendigen Informationen über die Arbeitsweise, das Thema des Seminars gewählt. Heckmann grenzt die Fragen ein, die in einem Sokratischen Gespräch fruchtbar angegriffen werden können. Da in einem Sokratischen Gespräch nur mit dem Instrument des Reflektierens über Erfahrungen, die allen Gesprächsteilnehmern zur Verfügung stehen, gearbeitet wird, scheiden Fragen deren Beantwortung anderer Instrumente bedarf aus. „Solche Instrumente sind: 1. Experiment bzw. Beobachtung oder Messung in der Natur oder im Laboratorium. 2. empirische Erhebungen, wie sie in den Sozialwissenschaften üblich sind. 3. historische Studien. 4. die psychoanalytische Methode zur Aufdeckung der individuellen seelischen Problematik eines Menschen“ (Heckmann 1993, S. 15). Demnach können in einem Sokratischen Gespräch alle Fragen angegriffen werden, zu deren Beantwortung keines dieser vier Instrumente erforderlich ist. Dies sind Fragen aus den Bereichen „Mathematik und Philosophie – Philosophie im weitesten Sinne, einschließlich Wissenschaftstheorie, einschließlich der Grundfragen von Politik und Erziehung“ (Heckmann 1993, S. 15). Nach dieser Eingrenzung der möglichen Fragestellungen eines Sokratischen Gesprächs, werden in der ersten Seminarsitzung von den Studenten Fragen vorgeschlagen. Im allgemeinen wird die Frage gewählt, die in dem Teilnehmerkreis, das stärkste Interesse findet.
Nach Heckmann ist ein Gespräch sokratisch, wenn es dem einzelnen Teilnehmer verhilft, den Weg vom konkreten Erfahrenen zur allgemeinen Einsicht selber zu gehen. Der Leiter des Gesprächs hat die pädagogische Aufgabe dafür zu sorgen, das dies geschieht. Heckmann nennt hierfür sechs pädagogischen Maßnahmen, welche im folgenden zusammengefasst dargestellt werden:
Die sechs pädagogischen Maßnahmen stellen sehr unterschiedliche Anforderungen an den Gesprächsleiter. Die ersten beiden: Zurückhaltung der eigenen Auffassung zur Sache und das Heranführen der Diskussion an konkrete Erfahrungen, sind relativ einfach. Seine eigene Auffassung zur Sache nicht erkennen zu lassen, erfordert vom Gesprächsleiter lediglich einen auf dem Verstehen des Sinns dieser Maßnahme beruhenden Entschluss. Und um die Teilnehmer zu veranlassen, einen Gedanken an einem Beispiel aus ihrer eigenen Erfahrung deutlich zu machen, braucht er sie nur beharrlich dazu aufzufordern (a. a. O., S. 89). Die dritte Maßnahme, das Hinarbeiten auf gegenseitiges Verstehen, stellt höhere Anforderungen an den Gesprächsleiter. Das kann mühsames kontrollieren erfordern, etwa von der Art: „Würde Hans noch einmal sagen wie er Grete verstanden hat?“ und dann an Grete „Hat er dich richtig verstanden?“. Diese Mühe sollte der Gesprächsleiter nicht scheuen, wenn er den Eindruck hat, dass gegenseitiges Verstehen noch nicht voll erreicht ist. Auch bei der fünften Maßnahme braucht der Leiter ein gewisses Gefühl wie es um den Konsensus der Gruppe steht. Er muss erkennen, ob ein Konsensus auf der an Gründen orientierten Überzeugung der Teilnehmer beruht oder ob einige halbherzig zustimmen, ohne überzeugt zu sein. Das Festhalten an der gerade erörterten Frage, wie in der vierten Maßnahme beschrieben, erfordert vom Gesprächsleiter die Selbstkontrolle, ob er noch sieht, welche Frage diskutiert wird, oder ob er den Überblick verloren hat, und wenn letzteres der Fall ist, den Entschluss zu der Frage: „Ich sehe nicht mehr, über welche Frage wir sprechen; würde bitte einmal jemand die Frage nennen?“ Sollte das Gespräch sich so entwickeln, dass Gesprächsleiter und Teilnehmer die Zusammenhänge nicht mehr überschauen, fruchtbare Ansätze also nicht mehr wahrnehmen, sollte das Gespräch abgebrochen werden. Denn dann besteht nicht mehr viel Aussicht, dass es fruchtbar wird. Nach Heckmann stellt die sechste Maßnahme die höchsten Anforderungen an den Gesprächsleiter: das Erkennen und Nutzen fruchtbarer Ansätze und Fragen. Hierzu muss der Leiter den Teilnehmern voraus sein an philosophischer Einsicht und an Erfahrung mit dem Mühen um philosophische Einsicht. Wer mit der Leitung Sokratischer Gespräche beginnen möchte sollte deswegen mit Themen beginnen die sich nicht allzu weit von der konkreten Erfahrung entfernen, also z. B. konkrete Konflikte auf eine faire, gerechte Lösung hin zu untersuchen, jedoch die Frage nach dem abstrakten Prinzip gerechter Konfliktentscheidung zunächst bei Seite zu lassen (a. a. O.) Als konkrete Weiterentwicklung des Sokratischen Gesprächs durch Heckmann und seine Mitstreiter ist die Einführung des „Metagesprächs“ anzusehen. Das Metagespräch dient als Gespräch über das zuvor geführte Sokratische Gespräch. Nelsons These, nach welcher der philosophische Unterricht seine Aufgabe löst, „wenn er im Schüler die Einflüsse, die der Aufhellung der philosophischen Erkenntnisse im Wege stehen, planmäßig schwächt, die ihr förderlichen planmäßig stärkt“ (Nelson 1996, S. 23), führt Heckmann zu den Fragen, wie dies geschieht und wie der vom Lehrer ausgehende Einfluss „im Schüler“ diese Wirkung hervorbringt. Hierzu Heckmann: „Wir können die erzieherische Einwirkung als eine Wirkung von Innerem auf Inneres verstehen. Das Innere des Lehrers wirkt auf das Innere des Schülers, gewiß durch Äußeres vermittelt, durch Sprechen, Gesten, Verhalten. Ist aber der sokratische Lehrer auf das Bemühen der Schüler, der philosophischen Einsicht auf die Spur zu kommen, konzentriert; hat er Freude an ihren oft überraschenden Ansätzen, Geduld mit ihren Umwegen, dann ruft diese seine innere Haltung in den Schülern eine das Forschen nach der philosophischen Wahrheit fördernde innere Verfassung hervor. Sie wird in der Gruppe spürbar werden, und die dem philosophischen Forschen günstige Gruppenatmosphäre wird wiederum auf den einzelnen Teilnehmer in einer die Arbeit fördernden Weise wirken. (...) Meine Antwort auf die Frage, wie der sokratische Lehrer das planmäßige Stärken der förderlichen Kräfte zustande bringt, ist also: Je mehr Aufmerksamkeit er frei hat – ein beträchtlicher Teil seiner Aufmerksamkeit ist durch die Sachproblematik gebunden – für das Innere der Schüler und je deutlicher er dabei sein pädagogisches Ziel: das selbsttätige Bemühen der Schüler um Einsicht, im Blick hat, desto sicherer wird sein Verhalten, werden seine Maßnahme so sein, daß sie der Aufhellung der philosophischen Erkenntnis dienen“ (Heckmann 1993, S. 98 f.). Auch bei Nelson und Heckmann steht der geistige Hebammendienst im Mittelpunkt ihres Bemühens. Doch im Gegensatz zu Sokrates, der meist einen Menschen während der Geburt seiner Erkenntnis unterstützt, bemüht sich der Gesprächsleiter eines Sokratischen Gespräch in der heutigen Tradition nach Nelson und Heckmann, jedem einzelnen, der gewöhnlich 10-14 Teilnehmern des Seminars, zur inneren Einsicht zu verhelfen. Ob dies gelingt, hat aber nicht nur der Gesprächsleiter zu verantworten. Vielmehr ist das Gelingen eines Sokratischen Gesprächs von den Bemühungen aller Beteiligten abhängig.
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