Sokrates als Hebamme !?

Die Widersprüchlichkeit der Zeugnisse über Sokrates sowie die Verschiedenheit der Schulen, die auf ihn zurückgehen, erschweren es, die Frage zu beantworten, welch ein Mensch Sokrates war. Da keine schriftlichen Aufzeichnungen von ihm selbst vorliegen, lässt sich seine Lehre nur schwer objektiv nachvollziehen. Einige der überlieferten objektiven Daten über Sokrates, wie dessen Lebenszeit, Herkunft, Familie und schließlich die Tatsache seiner Hinrichtung sind aber unstrittig (vgl. Böhme 1988, S. 26).

Als primäre Quellen über Sokrates sind Schriften von Aristophanes, Platon und Xenophon anzusehen. Manchmal werden noch Bemerkungen des Aristoteles über Sokrates hinzugerechnet, allerdings kommt Aristoteles erst im Jahre 367 v. Chr. nach Athen, also 32 Jahre nach Sokrates Tod. Seine Bemerkungen sind also keinesfalls als unmittelbares Zeugnis zu werten.

Das größte Gewicht kommt den Schriften von Platon zu. Er gehört ab 408 v. Chr. zum engsten Kreise um Sokrates. Platon schreibt seine Werke in der Form sokratischer Dialoge, in denen anhand von Gesprächen zwischen zwei oder mehreren Personen philosophische Gedanken vorgetragen, diskutiert und kritisiert werden. Das von Platon in seinen Dialogen gezeichnete Bild des Sokrates ist wohl am ehesten dazu geeignet, ein Verständnis für dessen welthistorische Wirkung zu erlangen. Platons Sokrates ist vielfältig, schillernd, er kann Sokrates den Sophisten, als der er in dem Stück „die Wolken“ von Aristophanes auftritt und Sokrates als den Biedermann, wie ihn Xenophon in seinen Schriften darstellt, mittragen und die Unterschiedlichkeit der möglichen Fortsetzungen seines Weges verständlich werden lassen (a. a. O. S. 31). In den folgenden Ausführungen zu Sokrates und seiner geistigen Hebammenkunst werde ich mich auf das von Platon gezeichnete Bild des Sokrates beziehen.

Nach R.M. Hare (1998, S. 30) kann heute mit einiger Sicherheit festgehalten werden, dass die philosophischen Bemühungen des Sokrates folgenden Gegenständen gelten:

  • der Unterscheidung zwischen Meinen, welches nur zufällig das Rechte treffen mag, und Wissen;

  • der Suche nach tragfähigen Definitionen, die Meinen in Wissen überführen erlauben;

  • der Entwicklung einer Methode zur Untersuchung solcher Definitionen;

  • der Anwendung dieser Methode auf praktische Lebensentscheidungen;

  • der Frage, ob Tugend oder Vortrefflichkeit des Charakters gelehrt werden kann, und wenn ja, auf welche Weise;

  • der Möglichkeit, dass Vortrefflichkeit des Charakters und Erkenntnis des Guten irgendwie untrennbar sind, so dass, wenn man diese Erkenntnis vermitteln kann, niemand der sie besitzt, aus eigenem Willen ein schlechtes Leben führen würde.“

Sokrates philosophische Bemühungen finden ihre Niederkunft in der Kunst seines Gesprächs. In Platons Dialog Theaitetos, in dem Sokrates, Theodoros und Theaitetos der Frage „Was ist Erkenntnis?“ nachgehen, erzählt Sokrates von seiner Gesprächskunst und vergleicht sie mit der Hebammenkunst, die seine Mutter Phainarete ausübt. In der Antike ist es Brauch, dass nur Frauen Hebammen werden können, die selbst schon geboren haben, aber ihres Alters wegen nicht mehr schwanger werden können. Durch diesen Brauch soll sichergestellt werden, dass Hebammen jederzeit frei und befähigt sind, Geburtshilfe zu leisten und durch die eigene Erfahrung – durch die eine persönliche Reife in Verbindung mit dem beruflichen Wissen entsteht – wissen, was eine Geburt bedeutet. Zu den wesentlichen Aufgaben der Hebamme gehören zu Lebzeiten des Sokrates neben der Anregung und Reduzierung der Wehen, der Entbindung des Kindes auch die Ehevermittlung sowie die Abtreibung. Sokrates nennt für alle diese Tätigkeiten Analoga in seiner pädagogischen Methode. Im Unterschied zu den Hebammen kommt Sokrates die Beurteilung der Frucht hinzu, ob sie am Leben bleiben und aufgezogen werden soll oder nicht – ein Recht, das zu dieser Zeit in Athen der Vater ausübt (vgl. Böhme 1988, S. 134).

Bevor näher auf die geistige Hebammenkunst des Sokrates eingegangen wird, soll zunächst die Kunst der Hebammen dargelegt werden. Auch soll die Problematik der Geburt des Menschen erörtert werden. In diesem Kontext ergeben sich folgende Fragen:

  1. Worin besteht die Tätigkeit der Hebamme?

  2. Was bedeuten Schwangerschaft und Geburt für eine werdende Mutter?

  3. Welche Bedeutung hat der Geburtsvorgang für das Neugeborene?

Diese Fragen betreffend wurde ein Gespräch mit einer Hebamme geführt. Im Bezug auf die erste Fragestellung, worin die Tätigkeit der Hebamme besteht, kristallisierten sich folgende Wesensmerkmale heraus:

  • Eine Hebamme unterstützt und begleitet die werdende Mutter während der Schwangerschaft und bei der Geburt.

  • Sowohl das körperliche als auch das geistig-seelische Wohlergehen der werdenden Mutter bestimmt das Handeln der Hebamme.

  • Diese sucht das natürlich vorhandene menschliche Wissen, wie ein Mensch geboren wird, in der Mutter zu wecken.

  • Die werdende Mutter wird ermutigt auf ihren eigenen Körper und auf das werdende Leben zu „hören“.

  • Die Hebamme sucht Gefahren so früh es möglich ist zu erkennen, um diese von der Mutter und dem entstehenden neuen Leben abzuwenden. Dies geschieht im Bewusstsein der Verantwortung, dass Interventionen oftmals langfristige Auswirkungen haben.

  • Die Hebamme begleitet jede Geburt bis zur Entbindung und wendet sich nicht während des Geburtsvorgangs anderen Geburten zu.

  • Keine Hebamme kann garantieren, dass das Kind gesund zur Welt kommt, tut aber alles in ihrer Kraft stehende um bei der Geburt und darüber hinaus Hilfen anzubieten und zu vollziehen.

Bezüglich der zweiten Fragestellung kamen während des Gesprächsverlaufs folgende Phänomene zum Vorschein:

  • Zur Schwangerschaft kommt es (normalerweise) durch Geschlechtsverkehr. Die Zeugung ist als ein sozialer Akt anzusehen. In der anthropologischen Differenz zwischen Mann und Frau, die sich auf die Organfunktion beim Sexualakt sowie auf die weibliche Gebärfunktion bezieht, ist die soziale Beziehungen schlechthin fundierende Abfolge von Geben und Empfangen eingelagert, genannt Reziprozität (vgl. Allert 1998, S. 231).

  • Vielfach „weiß“ die werdende Mutter intuitiv um die richtige Position zum Gebären.

  • Während des Geburtsvorgangs treten – vor allem bei der Erstgeburt - starke Schmerzen auf, die, wenn keine Komplikationen oder Geburtsverletzungen auftreten, rasch abklingen, wenn das Kind geboren ist.

  • Jede werdende Mutter trägt die Fähigkeit zu gebären seit ihrer eigenen Geburt in sich. Die Gebärfähigkeit entwickelt sich in der Pubertät.

Die Frage welche Bedeutung die Geburt für das Neugeborene hat führte im Gespräch zu Gedanken, die ich mit Hilfe der angegebenen Literatur präzisieren konnte:

  • Das Kind wird in eine ihm vollständig fremde Welt hineingeboren, in ein Nichts an Bekanntem und Vertrautem. Bei der Geburt muss das Neugeborene von dem, was ihm auf elementare Weise vertraut war und wo es heimisch war, dem Muterleib, Abschied nehmen und in die größte Ungewissheit hinaustreten, die je dem Menschen begegnen kann und dort seine Lebensfähigkeit unter Beweis stellen. Sein Leben in der Welt ist von nun an ein kontinuierlicher Erfahrungsgang mit zahllosen Abschieden, Ankünften und Heimkehren, bis es schließlich von diesem Gang selbst und der Welt, in der er stattfand, Abschied zu nehmen gilt (vgl. Koch 1995, S. 26 f.).

Wenn nun in den oben gestellten Fragen und in deren Antworten die Begriffe Kind, Mutter und Hebamme durch die Begriffe Erkenntnis, Mensch/Schüler und Lehrer/Sokrates ausgetauscht werden, kommt das Wesen der geistigen Hebammenkunst zum Vorschein.

  • Sokrates unterstützt und begleitet den Menschen im Erkenntnisprozess.

  • Das geistige Befinden des Menschen bestimmt das Handeln des Sokrates.

  • Er sucht das vorbewusst vorhandene Wissen seines Gegenübers in das Bewusstsein zu überführen.

  • Er ermutigt die Menschen in ihre eigene Vernunft zu vertrauen.

  • Er sucht das Gespräch in fruchtbare Bahnen zu geleiten.

  • Sokrates vollendet eine „Gedanken-Geburt“, ohne gleich abzuschweifen und sich anderen Geburten zuzuwenden.

  • Sokrates ist sich den Schwächen seiner Methode bewusst, doch ist er sich sicher, dass sie dennoch die einzige ist um zur Erkenntnis zu gelangen.

  • Die Fähigkeit zur Erkenntnis zu gelangen (Vernunft), bildet sich intersubjektiv. Die Erkenntnis die der Mensch gebären kann, wurde in ihm durch Interaktion mit anderen gezeugt (vgl. Mead G. H. 1969).

  • Davon ausgehend, dass Sokrates seinen Gesprächspartner nicht belehrt und sein Gegenüber die Erkenntnis „nur selbst aus sich selbst“ entdeckt, schließt Sokrates, dass der Mensch die Erkenntnis schon in sich trägt und lernen durchweg Wiedererinnerung ist.

  • Der Weg zur Wahrheit ist für den Menschen mit Schmerzen verbunden. Doch sowie die Erkenntnis gefunden ist, kann der Schmerz verschwinden. Jedoch können Erkenntnisse immer wieder neue Fragen aufwerfen, die wiederum neue „Wehen“ hervorrufen. Die Geburt des Kindes wie die der Erkenntnis sind als potentiell krisenhafte Ereignisse zugleich mit dem Zwang verbunden, diese Krise in eine Routine zu überführen. In sozialwissenschaftlichen Entwicklungstheorien bilden Krisen von der Geburt bis zum Tod des Menschen den Normalfall.

  • Jeder Mensch besitzt seit seiner Geburt prinzipiell die Fähigkeit zur Erkenntnis zu gelangen. Darauf beziehen sich sozialwissenschaftliche Theorien; so ist beispielsweise die Möglichkeit des abstrakten Denkens mit ca. 12 Jahren gegeben (vgl. Piaget, Theorie der kognitiven Entwicklung. nach Garz 1994).

  • Der Weg zur Erkenntnis, führt ins Ungewisse. Wird die Erkenntnis ins Bewusstsein gehoben, bedeutet dies die Trennung von etwas Altem hin zu etwas Neuem. Die neugeborene Erkenntnis ist vernünftig, wenn sie lebensfähig ist, d. h. wenn sie nachvollziehbar ist.

Es kann gesagt werden, dass Sokrates einen neuen Typ Lehrer erfunden hat: Den Lehrer, der nicht belehrt. Die zentrale Idee besteht darin, dass der Lehrer dem Schüler kein Wissen mitteilt oder eintrichtert, sondern ihm vielmehr bei der Bewusstmachung von Wissen Hebammendienste leistet. Auf diesem Wege soll erreicht werden, dass im Gegensatz zu gewöhnlicher Wissensbildung, das Wissen dem Schüler nicht äußerlich bleibt, ihn also nicht zu einer Art Papagei werden lässt, der alles nachplappert und nicht versteht was er sagt, sondern das Wissen als selbstproduziertes Wissen verinnerlicht wird.

Wenn sich die Frage einstellt, wie weit denn „alles“ Wissen aus sich selbst geboren werden kann, ist wichtig darauf hinzuweisen, dass Sokrates sich keineswegs als den alleinigen Lehrer versteht, sondern seine Schüler auch den Sophisten zum Unterricht zugeführt hat. Ohne die Vermittlung von Tatsachenwissen und die Übermittlung von Traditionswissen kommt das Selberdenken nicht aus (vgl. Böhme 1988, S. 134 f.).

Für Sokrates besteht das menschliche Gutsein in Wissen. Tugend ist Wissen für ihn und deshalb muss Tugend auch lehrbar sein. Das menschliche Wissen, welches das Gutsein des Menschen ausmacht, ist nach Sokrates aber kein Bescheidwissen oder ein Wissen von etwas, sondern vielmehr ein Bewusstseinszustand, genannt Bewusstheit.

Bewußtheit ist (..) eine Organisationsform des ganzen Menschen, die primär sein Verhältnis zu seinen eigenen Wissensbeständen, aber weiter dann zu seinen Emotionen und schließlich zu seinem Leib bestimmt. In bezug auf seine Wissensbestände ist Bewußtheit das Mitwissen um den eigenen Zustand des Wissens oder der Unwissenheit, in bezug auf die Emotionen ist Bewußtheit die Instanz der Selbstbeherrschung, in bezug auf den Körper das Aktzentrum, das ihn zur Einheit zwingt und als Instrument gebraucht“ (a. a. O., S. 140).

Wie diese Bewusstheit erzeugt wird, weiß Sokrates nur zu gut. Es ist die Erfahrung des Negativen. Die Negation der eigenen Person, die zum Anlass wird, sich auf sich selbst zurückzubeugen. Die Blamage, das Scheitern an sich selbst, die Demütigung, die Kränkung, zerbrechen das zwanglose Selbstvertrauen, hemmen den unmittelbaren Ausdruck der Gefühle, bietet dem Sichausleben der Triebe Einhalt, beendet das naive Äußern von Ansichten, bringt das forsche Darauflos-Handeln zum Stehen und lässt das satte Bescheidwissen verstummen. Sokrates kennt alle Formen und Techniken des Gesprächs und des Umgangs mit Menschen. Er ist der Zitterrochen, der den Menschen einen Schlag versetzt. Eine gefährliche Pädagogik. Seine Techniken sind Ironie, Frage, Rollentausch und Elenktik. Geht es gut, wird der Schüler in sich selbst gehen und sich seiner selbst bewusst; er fängt an zu reflektieren. Der Unterschied zwischen Meinen und Wissen wird ihm klar und er wird erst jetzt anfangen, wirklich wissen zu wollen und Fragen zu stellen. Geht es nicht gut, wird er wohl zum Zyniker werden oder wird sich rächen wollen an Sokrates oder wird in gekränkter Raserei den Rest seines Lebens hinbringen. Sokrates ist sich dessen bewusst und tut alles, um den schmerzhaften Einschnitt zu mildern, den er seinen Partnern zumutet. Denn in jedem Gespräch geht es Sokrates doch um das eine: in seinem Partner das Gutsein als Wissen zu erzeugen (Böhme 1988, S.140 f.; zur sokratischen Ironie: vgl. a. a. O., S. 142-156; Horster 1994, S. 97-100; zur sokratischen Frage und Elenktik: vgl. Waldenfels 1961; Koch 1995, S. 101 ff.).

Die antike Philosophie beschäftigt sich vor allem mit der Suche nach dem Wesen einer Sache und nach dem Wesen von allem. Um zum Wesen zu gelangen, geht Sokrates von den konkreten Einzeldingen aus. Sie sind der Ausgangspunkt der Suche nach dem Wesen und der Wahrheit als der Aussage über das Wesen. Wahrnehmen kann jeder einzelne Mensch. Über das Wahrgenommene kann er sich seine Auffassung bilden. Der Betrachter kann allerdings nie sicher sein, ob seine auf das Wahrgenommene bezogene Äußerung lediglich eine bloße Annahme oder eine wahre Aussage ist. Im Dialog mit anderen kann er seine Anschauung überprüfen, korrigieren oder bestätigt sehen. Dies geschieht in folgender Weise: Eine Person macht eine Aussage (formuliert eine These, einen Sachverhalt oder eine Behauptung). Eine am Gespräch beteiligte Person kann diese Äußerung anzweifeln, indem sie Einwände (eine Antithese) formuliert. Dieser argumentative Prozess muss solange weitergeführt werden, bis keine plausiblen Widersprüche mehr vorgebracht werden können. Auf diesem Wege gelangen die antiken Philosophen von der bloßen Meinung zur gesicherten Wahrheit, also zur wahren und nicht nur zur vermeintlich wahren Aussage (vgl. Horster 1994, S. 10).

Die Kunst des Sokrates besteht darin, dass er durch seine Fragen seine Schüler zum Eingeständnis ihrer Unwissenheit bringt und damit dem bei ihnen innewohnenden Dogmatismus die Wurzel durchschneidet. Nelson nennt dies, die „Kunst zur Freiheit zu zwingen“ (Nelson 1996, S. 20).

Die dialektische Methode mit der Sokrates seine Gesprächspartner verwirrt, um so von ungesicherten Meinungen, ungeprüften Behauptungen oder Vorurteilen zur gesicherten Wahrheit zu kommen, soll mit Hilfe des Laches – Dialogs verdeutlicht werden. Sokrates will in diesem Dialog mit zwei Feldherren den Begriff Tugend, speziell die Tugend der Tapferkeit, untersuchen und klären. Bei zwei Feldherren steht für ihn außer Zweifel, dass sie tapfer sind und somit vermutet Sokrates, dass sie auch wissen, was Tapferkeit ist. Sokrates fragt zunächst einen der Feldherren, mit Namen Laches, was Tapferkeit seiner Meinung nach sei. Auf diesem Wege gelangen sie dann beide von der bloßen Meinung über eine Sache – hier der Tapferkeit – zur Wahrheit. Die Wahrheit über eine Sache bekommt man, wie oben schon erwähnt, wenn man ihr Wesen benennen kann. Ausgegangen werden muss vom Konkreten (vgl. Horster 1994, S. 20).

Zu Anfang dieses Dialogs behauptet Laches zu wissen, was Tugend ist.

Laches: Dieses, o Sokrates ist beim Zeus nicht schwer zu sagen. Denn wenn jemand pflegt in Reih und Glied standhaltend die Feinde abzuwehren, und nicht zu fliehn, so wisse, daß ein solcher tapfer ist.
Sokrates: Sehr wohl zwar gesprochen, o Laches; (...) Aber was ist denn der, welcher fliehend gegen die Feinde ficht, und nicht standhaltend?
Laches: Wie doch fliehend?

Sokrates: Wie ja von den Skythen gesagt wird, daß sie nicht minder fliehend als verfolgend den Feind bekriegen. Und auch Homeros in dem er irgendwo rühmend die Pferde des Aineias lobt, sagt: Dort zu sprengen und dort, verständen sie, in Verfolgungen und Entfliehung. Ja auch den Aineias lobt er in dieser Hinsicht, daß er sich auf die Flucht verstände, und nennt ihn Ersinner der Flucht.
Laches: Und das sehr richtig, o Sokrates, denn er spricht von Wagen, und so meinst auch du das von den Skythen in Beziehung auf die Reiter, denn die Reiter bei ihnen fechten so, das Fußvolk der Hellenen aber so, wie ich es sage.
Sokrates: Ausgenommen doch wohl, o Laches, das der Lakedaimonier, denn von den diesem wird erzählt, als es bei Plataiai auf die Schildträger gestoßen, habe es nicht standhaltend fechten gewollt, sondern sei geflohen; nachdem aber die Reihen der Perser sich getrennt, habe es umkehrend wie Reiter gefochten und dadurch in jeder Schlacht gesiegt.
Laches: Richtig.
Sokrates: Das ist nun eben, was ich meinte, ich wäre schuld daran, daß du nicht recht geantwortet hast, weil ich dich nicht recht gefragt habe; denn ich wollte nicht nur erfahren, welches die Tapferen im Fußvolke wären, sondern auch in der Reiterei und in allem, was zum Kriege gehört; und nicht nur die im Kriege, sondern auch die Tapferen in den Gefahren der See, ferner auch die, welche in Krankheiten und in Armut und in der Staatsverwaltung tapfer sind, ja noch mehr, nicht nur die gegen Schmerzen tapfer sind und gegen die Furcht, sondern auch gegen Begierden und Lust stark sind zu fechten, und zwar sowohl standhaltend als umwendend. Denn es sind doch einige, o Laches, auch in diesen Dingen tapfer.

In der letzen Äußerung wird deutlich, dass Sokrates wissen will, was das Wesen der Tapferkeit nicht nur im Kampf sondern z. B. auch in der Krankheit oder Armut ist. Sokrates erklärt Laches noch einmal, dass es nicht darum geht, irgend etwas Tapferes zu finden, sondern, dass sie auf der Suche nach der Tapferkeit selbst sind.

Sokrates: (...)Noch einmal also versuche zuerst die Tapferkeit zu erklären, was doch seiend sie in allem diesen dasselbe ist.

Sokrates illustriert das, was er meint, Laches an einem anderen Begriff.

Sokrates: Wenn nun jemand mich fragte, wie erklärst du dieses, o Sokrates, was du in allen Dingen Geschwindigkeit nennst, so würde ich sagen, daß ich die in kurzer Zeit vieles vollbringende Kraft Geschwindigkeit nenne, so wohl in der Stimme als im Lauf und in allen anderen Dingen.
Laches: Sehr gut wäre dies erklärt.
Sokrates: Versuche also auch du, o Laches, so die Tapferkeit zu erklären, welche Kraft wohl, als dieselbe seiend, in der Lust und Unlust und allen andern Dingen, worin wir sagen, daß sie statthabe, dann Tapferkeit genannt wird
(Laches, 190 e – 192 b).

Auf dem Weg zur Erkenntnis des Wesens der Tapferkeit ist Laches durch die Einwände des Sokrates verunsichert worden. Für Sokrates ist dies eine notwendige Vorarbeit (Menon, 84 b. Diese Verwirrung, in die Laches versetzt wird, die Aporie ist überhaupt der entscheidende Effekt der Sokratischen Methode. Durch diese Erfahrung wird Laches klar, dass er ein Bedürftiger ist. Erst jetzt fängt er an, sich selbst etwas zu fragen; erst danach begreift er überhaupt, dass an dem gestellten Problem etwas fraglich ist, und beginnt sich dafür zu interessieren. Im Grunde könnte Sokrates Tätigkeit mit der Aporie beendet sein, in den meisten Fällen ist sie es auch. Aus der Aporie heraus sollte der Schüler sich selbst aufmachen, die Lösung zu suchen. Manchmal sind allerdings dazu noch Fingerzeige und Anleitungen nötig. Wichtig ist vor allem, dass durch die Aporie ein Weg als ausgeschöpft, eine Methode als gescheitert begriffen wird. Auf diese Weise wird unreflektiertes Alltagswissen zerstört und durch eine selbständige Reflexion, zu der Sokrates die Geburtshilfe leistet, in ein abgesichertes Wissen überführt (Horster 1994, S. 22 f.).

Doch Sokrates geht es nicht in erster Linie um dieses abgesicherte Wissen, sein Ziel ist das Selbstvertrauen in die Vernunft zu stärken, woraus der zukünftige autonome Vernunftgebrauch resultiert, welcher das Erkennen des Guten möglich macht und durch Bemühen menschliches Gutsein bewusst und wahrhaftig werden lässt.